Interview

Brigitte Halenta beantwortet 5 Fragen zum Thema Alter

Kennenlernen_BrigitteHalentaVON INGKILI

SEPTEMBER 2016

Laut einer aktuellen Studie im Auftrag der Deutschen Bank und der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ haben eher jüngere Menschen (14- bis 29-jährige) Angst vor dem Alter und der damit verbundenen Einsamkeit. Hingegen haben aber erstaunlicher Weise nur 11 Prozent der von TNS Infratest befragten über 60-Jährigen Angst vor dem Alleinsein!

Frage:

In deinem Roman DIE BREITE DER ZEIT muss deine Protagonistin, die siebzigjährige Henriette, nach einem Schicksalsschlag ihr Leben neu erfinden. Sie stellt u.a. fest, dass Alter „im Kopf gemacht wird“ und verwirklicht u.a. ihren Traum, Kunstmalerin zu werden. Inwiefern wird deiner Ansicht nach »Alter im Kopf gemacht«?

Antwort:

Es ist aus der Psychoimmunologie bekannt, wie stark positive oder negative Gedanken körperliche Prozesse beeinflussen. Unser ganzes Leben lang stellen wir mit unseren Vorstellungen und Überzeugungen Weichen – körperlich wie seelisch – aus denen schließlich unser Leben wird. Warum sollte das im Alter anders sein? Ein Beispiel: Plötzlich tut das Knie weh, man kann nur noch unter Schmerzen laufen. Jetzt kann der Mensch denken: Ach, das geht vorüber, morgen ist es bestimmt schon besser, oder er kann denken: Jetzt fängt das auch bei mir an, ich werde alt, es wird immer schlimmer werden. Was glauben Sie, welcher Gedankengang fördert die Heilung mehr? Übers Alter reden, macht alt. Und das besonders in der westlichen Welt, in der die Menschen für Alter ein Defizitmodell im Kopf haben. „Think young“ ist meine Devise. Dann fällt es auch nicht schwer, unter Menschen zu sein und Freunde zu finden.

Frage:

Henriette stellt im Verlauf ihrer Entwicklung fest, dass ihre Lebenszeit zwar begrenzt ist, aber sie dennoch sehr viel Zeit hat. Sie entdeckt nämlich „Die Breite der Zeit“. Kannst du dies näher erklären und hast du dies selbst erlebt?

Antwort:

Die verschiedenen möglichen Erfahrungen von Zeit (und nicht nur von Zeit) müssen für eine Autorin mindestens im Ansatz zugänglich sein, sonst kann sie nicht glaubhaft darüber schreiben.

Im Alter kann die Bereitschaft, sich auf eine neue Erfahrung von Zeit im Alltag einzulassen, wachsen. Die Breite der Zeit ist eine Erfahrung, die jedem Menschen möglich ist. Traditionell wird sie mit bestimmten Techniken wie Meditation, AT, Yoga und dgl. in Verbindung gebracht und steht bestimmten Religionen wie z.B. dem Buddhismus nahe. Psychologisch geht es um eine primärprozesshafte Erfahrung, wie wir sie vom Traum und von manchen spontan sich einstellenden, entrückten Zuständen kennen. Die Breite der Zeit heißt bei den modernen Psychologen „Flow“ (Mihaly Csikszentmihalyi).

Frage:

Henriette lernt den Galeristen Carl kennen und lässt sich trotz ihres Alters noch einmal auf die Liebe und auch auf Sexualität ein. Welche Botschaft möchtest du damit deinen Leserinnen und Lesern vermitteln?

Antwort:

Eigentlich möchte ich nichts vermitteln, sondern nur gute Geschichten erzählen, weil ich fest glaube, dass Menschen Geschichten brauchen, in denen sie sich spiegeln können. Sexualität ist Leben, und Leben ist Sexualität, daran ändert sich auch mit dem älter werden nichts. Aber wie wir uns alle unser ganzes Leben lang verändern, verändert sich auch die Sexualität im Laufe des Lebens. Der deutlichste sexuelle Unterschied zwischen jungen und alten Menschen besteht wohl darin, dass die jungen unter Triebdruck stehen und nach Befriedigung suchen, wohingegen die alten es langsamer und geduldiger angehen lassen können und vornehmlich nach Nähe suchen.

Frage: 

Gibt es Reaktionen von Leserinnen und Lesern, die dich besonderes bewegt und berührt haben?

Antwort:

Ja, es gab viele ganz persönliche Leserinnenbriefe, die mich sehr berührt haben, für die allein es sich schon gelohnt hätte, ein solches Buch zu schreiben. Besonders gefreut hat mich der oft geschriebene Satz: „Ich hätte auch gerne einen Carl! Wo finde ich denn einen Carl?“, weil er mir unter anderen sehr persönlichen Bekenntnissen auszudrücken schien, dass es mir doch wohl gelungen sein muss, etwas Wesentliches über weibliche Sexualität in Sprache zu fassen.

Frage:

Wie siehst du dich selbst als Autorin? Glaubst du, dass Verlage grundsätzlich Vorbehalte gegen Autorinnen und Autoren haben, die über sechzig Jahre alt sind?

Antwort:

Da glaube ich gar nichts, das weiß ich. Für die großen Publikumsverlage sind Autorinnen über sechzig, wenn sie zum ersten Mal publizieren wollen, tot.

Diese Branche ist sehr konservativ und hat noch immer nicht verstanden, mit wie viel geschenkter Lebenszeit heutzutage noch zu rechnen ist. Die Zeitspanne nach sechzig kann leicht genauso lang werden wie die kreative Zeit davor. Die etablierte Verlagswelt verzichtet damit auf lebenserfahrene Autoren, die etwas über die Welt zu sagen hätten zugunsten von vielen jungen, die vor allem erst einmal sich selbst interessant machen wollen.

Vielen Dank für das Gespräch!