Tag 21

30. Juni 2017 Eisleben

Heide ist heute den Himmelsscheibenradweg von Querfurt bis Aseleben am Süßen See gelaufen. Der Himmelsscheibenradweg verbindet den Fundort der Himmelsscheibe von Nebra mit ihrem Aufbewahrungsort, dem Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Die Scheibe wurde 1999 auf dem Mittelberg bei Nebra von Raubgräbern gefunden, und sie gelangte erst nach einem wahren Krimi von mehreren Jahren ins Landesmuseum.

Die Himmelsscheibe von Nebra ist eine kreisförmige Bronzeplatte so groß wie ein Suppenteller mit Applikationen aus Gold und stellt offenbar astronomische Phänomene und religiöse Symbole dar, ihr Alter wird auf 3700 bis 4100 Jahre geschätzt. Sie gilt als einer der wichtigsten archäologischen Funde aus der Bronzezeit sowie als die zweitälteste bewegliche Himmelsdarstellung.

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Ich wundere mich immer über die vielen Zufälligkeiten, die natürlich keine sind, weil es das Fällige ist, das uns zufällt (Max Frisch), aber ein bisschen Staunen ist schon erlaubt. Weil wir hier kreuz und quer durchs Land reisen, kommen wir nahe Nebra vorbei, und ich erfahre erst jetzt von der faszinierenden Existenz der Himmelsscheibe. Die Sensationsmeldung von 1999 ist an mir vorbeigegangen.

Eigentlich mache ich täglich solche Entdeckungen: Verwunschene Plätze, an denen der genius loci hinter jedem Busch wispert; Aussichten über das Land, dass mir das Herz aufgeht und ich denke, wenn ich nun nicht hier säße und diese Pracht schaute, um wie viel ärmer wäre mein Leben; und dann Begegnung mit Menschen, wenn für ein paar Minuten eine Nähe entsteht, als würde man sich schon lange kennen. Max Frisch würde heute sicher gerne für das Prinzip Zufall eine quantenmechanische Erklärung akzeptieren: alles nichts weiter als „spukhafte Verschränkungen“ (Einstein).

Letztes Beispiel der Ort, an dem ich dies hier schreibe: Hätte ich mir je träumen lassen, dass ich mal in Aseleben am Süßen See unter sturmgepeitschten Wolken stehen und mir wünschen würde, mit der nächsten Bö über die weite Wasserfläche nach Eisleben zu fliegen (wenn ich schon nicht laufen kann wie Heide). Es gibt übrigens auch einen einen salzigen See. Als ich ihn passierte, roch es plötzlich wie an der Nordsee. Der Süße See ist größer. Er wird von einem Bach namens Böse Sieben gespeist. Wiki sagt dazu: „Der Süße See ist seit dem Trockenlegen des Salzigen Sees Ende des 19. Jahrhunderts das größte natürliche stehende Gewässer im Landkreis Mansfeld-Südharz. Anders als der Name angibt, ist das Seewasser wie bei den anderen noch bestehenden oder trockengelegten Mansfelder Seen salzig.“

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Es ist für uns sehr leicht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Unser Projekt bietet nahezu für jeden einen Anknüpfungspunkt: unsere Freundschaft seit über 45 Jahren, die Art unseres Reisens, Heides Laufen, mein Schreiben, also Sport oder Literatur  – und dann unser Alter. Für das Thema Alter interessieren sich alle, und uns beide als überzeugende Repräsentantinnen eines neuen Bilds vom Alter, akzeptieren die meisten – bis auf gelegentliche Ausnahmen. Ältere Frauen auf den Dörfern in Kittelschürzen und vorgealterten Gesichtern reagieren manchmal, als hätten wir sie angegriffen. Das können wir gut verstehen und lenken das Gespräch schnell auf unverfängliche Themen wie das Wetter und die Frage, wie man Rosen ohne den Einsatz von Chemie läusefrei halten kann. Mit unseren ZuhörernInnen bekommen unsere Gespräche nach dem Vorlesen – angeregt durch die Themen, die in der BREITE DER ZEIT eine Rolle spielen – sehr oft psychotherapeutischen Charakter. Inzwischen habe ich gelernt, mich, wenn es mir dann zu ausufernd wird, elegant zu verabschieden.

 

 

 

 

 

TAG 20

29. Juni 2017 Querfurt

Fast war ich versucht zu schreiben: Blog fällt heute aus wegen Dauerregen. Es ist übrigens der erste Regentag auf unserer Tour. Die imposante Burg Querfurt (eine der ältesten, größten und besterhaltenen Burgen Deutschlands und 7 mal größer als die Wartburg) bleibt unbesichtigt.

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Wir haben uns heute Morgen noch lange in unserem Waldhotel am Schwimmbad in Bad Bibra aufgehalten, wo die Atmosphäre so herzlich und familiär ist, sodass man am liebsten gar nicht wieder weg möchte. Gestern hatten wir dort überraschend einen warmen Sommerabend und wurden spontan zur Geburtstagsfeier des Wirts nach draußen an die große Tafel eingeladen. Drum herum die Wälder und nebenan ein luxuriöses Schwimmbad. Ein schönes Plätzchen.

Kurze Fahrt nach Querfurt. Diese Stadt in Sachsen-Anhalt ist nicht nur ein hübsches, fast idyllisches Städtchen mit einer bemerkenswerten Burg, sondern hier hat auch bei der Landtagswahl jeder dritte Wähler für die AfD gestimmt (schlimmer war es nur in Bitterfeld). Wenn man hier durch die friedlichen Gassen geht, selbst eine Fremde, der keine irgendwie fremdländisch wirkenden Menschen begegnen, fragt man sich warum.

Aber wo immer wir näher mit Menschen in Kontakt kommen – in Thüringen, in Sachsen-Anhalt – treffen wir auf freundliche und hilfsbereite Menschen, die unser Projekt spannend und anregend finden. Wenn ich wieder einmal einen Blog dieser Art schreiben will, werde ich mich von vornherein spezialisieren: Nur Begegnungen mit Menschen (sehr inspirierend, manchmal rührend), nur Hotels und wie man begrüßt wird (unglaubliche Bandbreite zu ähnlichem Preis ), nur Sehenswürdigkeiten (frustrierende Bildungslücken), nur Landschaften (da muss man poetisch werden, unter Zeitdruck schwierig) … die Liste lässt sich fortsetzen.

Und dann fahre ich durch Orte, deren Namen so poetisch sind, dass ich auf der Stelle anhalte, um eine Geschichte zu finden, die nur hier und sonst nirgendwo sich ereignet haben kann: Laucha an der Unstrut.

 

TAG 19

28. Juni 2017 Bad Bibra

Ein voller Tag, und immer haben wir nur den Geschmack einer Stadt, eines Landstrichs auf der Zunge, nie bekommen wir wirklich etwas zu beißen. Wir verlassen jeden Ort mit vielen Fragen, die unbeantwortet bleiben. So viel steht fest: Je länger wir unterwegs sind, um so deutlicher wird, dass wir beide von nichts wirklich eine Ahnung haben. Weder von Geschichte, noch von Geologie, noch von Namenskunde oder Topologie. Heute Morgen in Bad Kösen wären wir beide gerne auf einem geologischen Lehrpfad gewandert, der gleich hinter dem Mutigen Ritter durch ein Muschelkalkmeer zur Rudelsburg führt, aber wir wollten auch Uta in Naumburg besuchen und Heide braucht Zeit zum Laufen. So haben wir nur dem Käthe-Kruse-Museum einen kurzen Besuch abgestattet.

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Käthe Kruse lebte und arbeitete von 1912 bis 1950 in Bad Kösen. Eine erstaunliche Frau mit Unternehmergeist. Wer weiß schon, dass sie in den letzten Jahren auch Schaufensterpuppen herstellte.

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In unserem Hotel Mutiger Ritter, das aus einem denkmalgeschützten Gebäudeensemble besteht, ist auch die heutige Manufaktur von Plüschtieren untergebracht.

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Auf dem Bilderfries hinter uns ist dokumentiert, wer alles schon hier war: Fontane, Mommsen, Hufeland, Liszt. Im Mutigen Ritter ist es nie ganz still, das Rauschen der Saale am Wehr unterliegt wie ein Orgelton allem Leben in dem schlossartigen Gebäude.

Und dann Naumburg! Über den Dom schreibe ich nichts, darüber ist genug geschrieben worden, und jeder kann es nachlesen. Nur so viel: ein Erlebnis. Der Krieg hat ihn verschont wie auch die Stadt, in der wenig zerstört wurde. An der Treppe zum Ost-Chor entdecke auf dem Geländer hinreißende kleine Plastiken. Aus dem Reiseführer erfahre ich dann, dass sie „Der schmale Weg ins Paradies“ heißen (was mir gefällt) und von einem zeitgenössischen Künstler in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammen (was mich enttäuscht).

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Das äußerst sehenswerte Naumburg hat nicht nur einen großen, wunderschönen Marktplatz, sondern auch zwei Stadtteile: Das Domviertel und das Wenzel-Viertel. Die Wenzelkirche wurde im Krieg beschädigt, aber wieder aufgebaut, und die Silbermann-Orgel, die nach ihrer Fertigstellung von Bach persönlich abgenommen wurde, erstrahlt im vollen Glanz. Ich hatte das große Glück, gerade richtig zu einem kleinen Konzert zu kommen.

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Nachdem ich Heide aufgelesen hatte, erreichten wir am frühen Abend  Bad Bibra, wo wir außerhalb der kleinen Stadt in einem Waldhotel wohnen. Direkt daneben liegt ein Schwimmbad. Vielleicht kann ich Heide überreden, morgen statt zu laufen mal zu schwimmen. Das würde unsere Tagesorganisation sehr vereinfachen.

 

 

Tag 17 + 18

27. Juni 2017 Bad Kösen

Zwei Tage in Jena in einer bequemen Ferienwohnung haben uns gut getan. Die schmutzige Wäsche ist wieder gewaschen, die „Küchenbox“ sortiert. Hier (endlich mal ein reibungslos funktionierendes Internet) erreichte uns auch der schöne Artikel im Nordbayerischen Kurier vom 24./25. Juni, den Andreas Gewinner geschrieben hat. Auch mit dem Foto, das er im Licht der untergehenden Sonne knipste, sind wir sehr einverstanden.

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Einen ganzen Tag haben wir Jena gewidmet. Nachdem ich letztes Jahr Weimar besucht hatte – und begeistert war – hab ich mich sehr auf Jena gefreut, aber ich fand es schwer, Zugang zu dieser Stadt zu finden. Vielleicht lag es am grauen Himmel oder am Wochentag: Montag! Schillers Gartenhaus war geschlossen, die Schillergedenkstätte auch, das ganze Jahr wegen Renovierungsarbeiten. Ein wenig entschädigte uns Schillers Garten mit dem berühmten Steintisch.

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Eigentlich wollen wir heute auf dem Weg nach Bad Kösen die Rudelsburg und Saaleck besuchen. Aber alles kommt ganz anders. Schon im Aufbruch bemerkt Heide, dass ihre Geldbörse fehlt – natürlich mit allen Karten, Ausweisen u.s.w. Die telefonische Sperrung der Karten bei der Sparda-Bank in München erweist sich als harte Geduldsprobe ohne Erfolg. ( An die Sparda-Bank: Lasst Euer telefonisches Sperrprogramm mal neu programmieren, es steckt für Kunden in Not voller Hindernisse und funktionieren tut es auch nicht). Erst ein Direktanruf führt zur Sperrung. Nach hektischer Rekonstruktion des gestrigen Tages kommen wir zu dem Schluss, dass die Börse nur beim Drachenbäcker in Jena verloren gegangen sein kann. Der aber ist neu und seine Telefonnummer lässt sich nicht finden. Auch die nette Frau Schulz vom Tourismus-Büro kann keine Telefonnummer vom Drachenbäcker auftreiben, weiss aber, dass es ihn gibt und bietet an, selbst hinzulaufen. 10 Minuten später kommt der Anruf: Heides Geldbörse ist beim Bäcker gefunden worden und wird dort sicher verwahrt. Statt zwei berühmte Burgen zu besichtigen, fahren wir von unserem außerhalb gelegenen Hotel ein zweites Mal nach Jena rein, bringen Frau Schulz und dem Drachenbäcker je eine Rose und freuen uns,  dass Dienstag ist: Heute ist Schillers Gartenhaus offen.

„Abends bey Schiller“, so schieb Goethe vom  19. Mai 1797 ab für vier Wochen täglich in sein Tagebuch, da war er nämlich in Jena zu Besuch. Den Steintisch hatten wir ja schon gesehen, aber nun konnten wir auch Schillers blaue Studierstube unterm Dach besichtigen. Alles verglichen mit Goethes Gartenhaus sehr geräumig und mit hohen Decken. Die Familie Schiller verbrachte hier den Sommer, im Winter bezogen sie eine Wohnung in der Stadt. Viele schriftliche Zeugnisse, Zeichnungen von Charlotte Schiller und eine Vitrine mit den Erstausgaben von Schillers Werken.

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Am meisten hat mich beeindruckt, dass der lufthungrige Schiller das freie Leben in der Natur  und die wunderschöne Aussicht nach der Saale hin und ins Leutra-Tal enthusiastisch feiert – beides kann man heute nur noch ahnen. Das Haus liegt,  eingeschlossen von Häusern, die zu Zeiten der DDR entstanden sind, mitten in der Stadt. Von Aussicht keine Spur.

Unsere neue Adresse für heute ist Bad Kösen und da das Hotel Mutiger Ritter. Der außergewöhnliche Name des Hotels verspricht auch eine außergewöhnliche Geschichte.  Erste Info: In diesem Saal treffen sich jedes Jahr einmal die 124 schlagenden Verbindungen Deutschlands (ich hätte gedacht, die gibt es gar nicht mehr).

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Tag 16

25. Juni 2017 Jena

Wir fahren heute Nachmittag nach Jena und bleiben dort 2 Tage. Aber noch sind wir in Ziegenrück, d. h. ich bin da, Heide ist auf dem Weg nach Jena. Was ich jetzt berichten will, ist ein Nachtrag zu gestern und ein aktueller Bericht zu Ziegenrück an der Saale. Gestern brachen wir erst um 4 Uhr von Blankenstein auf, in der Hoffnung, doch wenigstens ohne Behinderung bis Remptendorf zu kommen, dort das Schloss zu besichtigen, zu Abend zu essen, um dann später ohne Straßensperren nach Ziegenrück fahren zu können. Da hatten wir uns gründlich getäuscht. Wir kamen bis Bad Dobenstein. Von da an fuhren wir 2 Stunden im Kreis. Alle Straßen nach Ziegenrück waren gesperrt. Verwirrende Umleitungsschilder, die uns z. B. auf den Ladeplatz einer Kies-Firma schickten, raubten uns den letzten Nerv. Unsere beiden Navi-Frauen waren inzwischen wegen zu vieler Neuberechnungen ins Koma gefallen. Ich sah uns schon auf einem Feldweg im Auto übernachten.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Hölderlin). Wieder einmal vor einer Straßensperrung angekommen, diesmal mit Notarztwagen und Schaulustigen, steige ich aus und mache offenbar einen derart verzweifelten Eindruck, dass sich gleich 3 Männer für mich engagieren. Jeder hat eine andere Wegbeschreibung, um doch noch heute Abend nach Ziegenrück zu gelangen: Bis Drognitz zurück und eine Fähre nehmen, über Schleiz (25 km entfernt), oder etwas näher über etliche Dörfer, deren Namen ich schon phonetisch nicht verstehe, geschweige denn, dass ich sie behalten könnte. Auf halbem Weg zum Auto, um Papier und Stift zum Aufschreiben zu holen, tippt mich jemand von hinten auf die die Schulter: „Warten Sie, bis die Ambulanz weg ist, ich bring Sie hin, es gibt noch einen anderen Weg.“

UNSER RETTER, HERR K.!

Herr K. hat ein freundliches Gesicht, ist ein bisschen rundlich und die Sorte von Mann, die manche Frauen mit „Knuddelbär“ beschreiben würden. Er bringt uns! Und wie! Bis vor die Tür des Hotels.“ Er fährt voraus, wir hinterher. Zuerst geht es noch auf einem schmalen, aber asphaltierten Sträßchen bergauf in abenteuerlichen Kurven, aber bald haben wir nur noch Schotter, Löcher, Rinnen und Verwerfungen unter den Rädern, und es geht immer weiter in die Höhe. Links tut sich eine tiefe, baumbestandene Schlucht auf, ich ahne, dass an ihrer Sohle die Saale fließt, rechts dehnt sich Landschaft pur.

DEUTSCHLAND IST SCHÖN! DEUTSCHLAND IST SCHÖN! DEUTSCHLAND IST SCHÖN!

Dann geht es in Serpentinen abwärts, und aus dem Weg wird wieder eine schmale Straße. Unser Retter will uns hier verlassen, aber als er hört, dass wir zum Hotel Fernmühle wollen, schüttelt er den Kopf und sagt: „Das finden Sie nicht, die Stadt ist auch gesperrt.“  Also steigt er wieder in sein Auto und lotst uns auch noch zum Hotel. Er muss den ganzen Weg wieder zurückfahren. Wir haben nichts, das wir ihm zum Dank schenken könnten (nächstes Mal habe ich Lübecker Marzipan im Gepäck) und umarmen ihn herzhaft. Im ersten Augenblick ist er überrascht, dann lässt er sich unsere Dankesbezeugungen gerne gefallen.

NOCH EINMAL: LIEBER HERR K., wenn Sie dies lesen, weil ich Ihnen meine Blog-Adresse doch gegeben habe, GANZ, GANZ HERZLICHEN DANK !! WIR WERDEN SIE ZUSAMMEN MIT IHREM SCHÖNEN ZIEGENRÜCK, DEM BERGRENNEN UND DER WUNDERBAREN SAALE IN BESTER ERINNERUNG BEHALTEN.

Die Fernmühle, direkt an der Saale in Ziegenrück ist ein ganz verwunschener Ort. Wir haben ein wunderschönes Zimmer mit einer Matratze, die mir nach den Anstrengungen gestern einen achtstündigen Tiefschlaf ohne Unterbrechung schenkte. Der Blick aus unserem Fenster ist märchenhaft.

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Wir machen nach dem Frühstück einen Spaziergang, an der Saale entlang, in den Ort und sehen nun, was wir gestern Abend beim Abendessen nur gehört haben: Das Ziegenrücker Bergrennen. Es hörte sich an, als nähere sich ein Geschwader Kampfflieger, oder auf der Saale führe ein Raddampfer (so wie auf dem Mississippi) – der Gast am Nebentisch klärte uns auf. Es waren die Teilnehmer des Rennens, auf einer Brücke unsichtbar hinter den Bäumen. Heute Morgen habe ich vom Start ein Video gemacht, dass ich später noch bei FB reinstelle. Bei diesem Rennen geht es übrigens mal nicht um Schnelligkeit, sondern um „Gleichmäßigkeit“.

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Zum Schluss noch ein Schmankerl, das wir im Städtchen im Aushang des Espero Verlags (der hier ansässig ist) gefunden haben.

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Tag 15

24. Juni 2017 Ziegenrück

Unser Abschiedsbild von einer Stadt, das wir meistens morgens vor dem Hotel aufnehmen, machen wir heute in Selbitz in einer kleinen Parkanlage hinter Rewe, und es ist gleichzeitig die Auflösung für mein Rätselfoto von gestern.

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Dieses merkwürdige Objekt – und es gibt noch mehr davon – ist ein „Armtrainer“. Laut Tafel fördert er Arm- und Rückenmuskulatur. Die Bügel sollen in aufrechter Haltung angehoben und heruntergedrückt werden. Weder gestern Abend, als wir das Ding entdeckten, noch heute Morgen ist außer uns jemand zu sehen. Wer sich das wohl ausgedacht hat? Die Selbitzer jedenfalls strafen diese Kreation offenbar mit Nichtachtung.

Heide meint: Sieht aus wie Rollstuhl mit Pflegerin.

Unser heutiges Ziel ist Ziegenrück, das ist die fünftkleinste Stadt Deutschlands und bekannt als „Die Perle im oberen Saaletal“. Die Stadt liegt an einem großen Saalebogen, umgeben von bewaldeten Bergen. Für Wanderer und Läufer wie Heide auch deshalb ein Paradies, weil alle Wege so gut ausgezeichnet sind. So sieht es auf der Karte aus. Aber da kommen wir gar nicht hin, weil heute  (Samstag) in und um Ziegenrück ein Trabi-Rennen stattfindet. Mindestens bis 18 Uhr ist die Stadt für privaten Verkehr gesperrt. Diese Infos bekomme ich im Rennsteig-Wandererstützpunkt in Blankenstein, wo der berühmte Wanderweg Rennsteig  beginnt bzw. anfängt. Dort gibt es nicht nur kompetente Infos, sondern auch zu essen und zu trinken und das kräftigste Internet, das ich bisher hatte. Per Telefon dirigiere ich Heide, die heute durch das Höllental läuft, hierher . Zur Erinnerung: Wir sind jetzt in Thüringen und nicht länger in Bayern. Das Höllental liegt im Frankenwald und ist der Abschnitt des Flusstales der Selbitz zwischen einem Ort namens Hölle und einem namens Blechschmidtenhammer. Es steht unter Naturschutz. Das enge Tal wird von der Selbitz durchflossen, die nach dem Ende des Höllentales die Grenze zwischen Bayern und Thüringen bildet. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Wiedervereinigung 1989 war die Grenze dort nicht passierbar.

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Noch mal ein Wort zu meinen abendlichen Lesungen, die eigentlich ein entspanntes Vorlesen in kleiner Runde sind. Meistens passen alle um einen Tisch, und nach einem ausgiebigen Gespräch, in dem wir einander kennenlernen, lese ich vor. Es hat etwas von einer Familienrunde mit gemütlichem Vorlesen, das durch Fragen und Kommentare unterbrochen wird. Das macht mir großen Spaß. Der direkte Kontakt mit meinen Zuhörern ist sehr motivierend, und hinterher gibt es mehr Diskussion, als ich es je bei einer „richtigen“ Lesung erlebt habe. Sehr befriedigend. Überhaupt: Das ganze Projekt erweist sich als erfolgreicher, als wir uns das vorgestellt haben. Meistens kommt jetzt immer ein Journalist von einer der umliegenden, regionalen Zeitungen dazu (gestern war’s die Frankenpost), und nach so viel persönlichem Kontakt werden natürlich auch Bücher gekauft. Tagsüber haben wir viele interessante Begegnungen mit Leuten, die auf unser beklebtes Auto oder auf unsere Buttons reagieren.

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Tag 14

23. Juni 2017 Selbitz

Das ist nun unsere letzte Station in Bayern. Morgen überschreiten wir die Grenze nach Thüringen. Bayern ist groß, wir haben 2 Wochen gebraucht, um es zu durchqueren, Thüringen dagegen ist klein, das schaffen wir mit 5 Übernachtungen. Von Münchberg haben wir eigentlich nur Baustellen gesehen. Und ausgedehnte Industriegebiete drum herum. Wir waren froh, als wir es hinter uns lassen konnten. Ab Schauenstein lag die offene Landschaft wieder vor uns. Irgendwo (Einheimische wissen wahrscheinlich genau, wo) verläuft zwischen der Oberpfalz und Oberfranken eine unsichtbare Grenze. Die Häuser verändern sich, die Marktplätze, die Dialekte – und wahrscheinlich noch viel mehr, das sich mit Geduld entdecken ließe.

Unsere heutige Etappe endet in Selbitz, wo wir in einem Gasthof mit dem Namen „Napoleon“ nächtigen. Selbitz liegt im oberfränkischen Landkreis Hof, hat 4359 Einwohner und nennt sich Stadt. Auf Grund seiner Lage wird Selbitz auch als Tor zum Frankenwald bezeichnet. Ganz ähnlich wie Münchberg wirkt auch Selbitz auf uns reizlos, es scheint aus einer einzigen Durchgangsstraße zu bestehen, aber die Landschaft drum herum ist herrlich. Auf einem Gang durch Selbitz entdecken wir in einer kleinen Parkanlage hinter Rewe seltsame Apparaturen. Hat jemand eine Idee, wozu das Ding gut sein könnte? Auflösung gibt es morgen.

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Tag 13

22. Juni 2017 Münchberg

Bischofsgrün haben wir heute Morgen nach einem reichhaltigen Frühstück inklusive Aussicht auf  die sanften Hügel mit dem Gefühl verlassen: Wir kommen bestimmt wieder, um zu wandern, zu schreiben und mit einem Blick aus dem Fenster aufzuwachen, der das Herz öffnet.

Wir wollten uns Zeit nehmen für das schöne Fichtelgebirge, und es wurde ein langer Tag daraus. Am Ende, als wir schon müde waren und Münchberg nur noch 10 km entfernt war, gerieten wir in eine Baustelle, fuhren mehrmals im Kreise, die Frau im Navi 1 drehte durch, die im Navi 2 hielt uns für ein Fahrrad und leitete uns auf Feldwege, die im Nichts endeten. So ist es nun spät geworden und ich nenne nur die drei heutigen Highlights:

Das Oberfränkische Bauernhofmuseum in Kleinlosnitz,

die Saale-Quelle

und den Waldstein, eine grandiose Burganlage.

 

Aus dem Museum dieses Foto mit dem schönen Text  zum Thema  zu Fuß gehen.

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Sehr interessant auch die Schaukästen mit den verschiedensten Mineralien der Gegend. Das Fichtelgebirge ist erdgeschichtlich sehr alt. 40 % aller Gesteinsarten der Welt kommen im Fichtelgebirge vor.

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Danach machten wir einen wunderschönen Waldspaziergang zur Quelle der Saale. Zum Blaubeerpflücken im Juli sollte man unbedingt wiederkommen. Die Saalequelle ist nur ein Rinnsal, aber das Wasser schmeckt!!

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Der absolute Höhepunkt aber war der Waldstein. Geologisch hoch interessant, wie so etwas zustandekommen. Schon am Parkplatz empfängt einen so ein Koloss.

 

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Der ganze Burgberg ist aus solchen übereinandergeschobenen Riesenquadern aufgebaut. Ich habe nur vom Westturm über das Land geschaut, Heide, als Münchenerin mit dem Klettern vertrauter, war noch ein Stück weiter – siehe unten: Heide meint.

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Heide meint:

Die mittelalterliche Burg Waldstein muss auf ihrem klettertechnisch durchaus anspruchsvollen Weg erst erklommen werden, damit sich vom höchsten Aussichtspunkt     (880 m N.N.) eine grandiose Landschaft vor einem ausbreitet, die einem schier den Atem raubt. Das Fichtelgebirge, eingebettet in die nordbayerischen Höhenzüge bis nach Thüringen hinein und rundum weiter und weiter – die geografischen Kenntnisse reichen einfach nicht aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tag 12

  1. Juni 2017 Bischofsgrün 

An Kemnath gefiel uns am besten unser Picknick, das wir auf der Fahrt dahin hatten, das Städtchen selbst beeindruckte mich wenig, vielleicht braucht es mehr Zeit, als wir haben, um verborgene Schönheiten zu entdecken. Aber nun fällt mir doch etwas Interessantes ein. Hier gibt es ein Museum für historische Musikmaschinen, das Musikeum, das hätte ich gerne besucht.

Aber Kemnath hatte dann doch noch etwas zu bieten. Weil in unserem Gasthof zwar das Zimmer in Ordnung war, Wirtin und Gastraum aber wenig ansprechend wirkten, sagten wir das Frühstück ab und gingen gegenüber beim Bäcker-Adl frühstücken. Wer hätte voraussagen können, dass dieses Frühstück ein Griff in das Zentrum der Geschichte Kemnaths werden würde. Bäcker-Adi (das Adi kommt von Adam) ist die älteste Bäckerei Deutschlands! Seit 450 Jahren ununterbrochen in der Hand der Familie Krauß. Die Inhaberin, Veronika Kraus, führt die Bäckerei in der 19. Generation und wusste viel zu erzählen. Ich habe eine Beschreibung der Familiengeschichte seit dem Jahr 1392 in Kemnath mitgenommen, und wenn ich noch einmal wirklich Zeit auf dieser Reise haben sollte, berichte ich davon ausführlicher. Die Brötchen des Bäcker-Adl sind jedenfalls handgemacht und ohne jede Zusätze – und genauso schmeckten sie auch. Frau Krauß entpuppte sich zu meiner Freude als literaturbegeistert (was für ein Zufall!) und kaufte mir gleich zwei Bücher ab. Von ihr stammte auch der Tipp, zur nahegelegenen Burg Waldeck zu fahren,

Die Burg, deren Grundmauern aus der Zeit 1000-900 vor Christi stammen, hatte über die Jahrhunderte eine wechselvolle Geschichte. In einer Privatinitiative wurde sie mit Hilfe von Arbeitslosen in den letzten Jahren restauriert.

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Vom Parkplatz ging es erst eine schattige Straße bergauf, aber dann in brennender Sonne in Serpentinen den eigentlichen Burghügel hinauf. Wieder waren wir allein auf weiter Flur. Je höher wir kamen, um so atemberaubender wurde der Ausblick. Die ganze Anlage in der sengenden Hitze erinnerte mich an Sommerreisen nach England, als ich – noch mit ganz jungen Beinen – unermüdlich auf den alten Mauern herumkraxelte. Heute suchte ich mir lieber ein schattiges Plätzchen, um die Aussicht zu genießen.

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Nachdem der Tag schon am Vormittag zwei Höhepunkte aufzuweisen hatte, freuen wir uns nun auf einen Ort mit dem schönen Namen Bischofsgrün. Das ist ein heilklimatischer Kurort im Fichtelgebirge im oberfränkischen Landkreis Bayreuth, von dem ich bisher auch noch nie gehört hatte. Bischofsgrün wird gewissermaßen eingerahmt von den beiden höchsten Erhebungen Nordbayerns: dem Schneeberg (1053 m) und dem Ochsenkopf (1024 m). Wir fuhren wie immer auf Umwegen zu unserem Ziel und waren beide begeistert vom Fichtelgebirge. Im Winter ein begehrtes Ziel für Ski-Fahrer, hat es jetzt im Sommer wenig Besucher. Aber die Landschaft!

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Unser Quartier für heute ist bestimmt ein kleines Paradies für Ski-Fahrer, der Idiotenhügel mit Lift beginnt gleich unter den Balkonen des Hotels.

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Heute Abend erwarten mich im „Deutschen Adler“ zwei Herren, einer von der Zeitung, einer vom Touristenbüro. Ich hoffe, dass auch noch jemand da ist, der etwas vorgelesen haben will.

Tag 11

20. Juni 2017 Kemnath

Nie habe ich so für den Augenblick gelebt wie auf dieser Reise. Täglich ein neuer Ort, täglich ein neues Hotel, ein anderes Bett. Koffer auspacken bei der Ankunft, alle Siebensachen wieder zusammensuchen bei der Abfahrt. Manchmal haben wir Glück, und das Auto steht nahe beim Hotel, aber oft steht es im ein paar Minuten entfernten Parkhaus, und man kann nicht mal eben die vergessenen Schuhe oder Bücher holen. Inzwischen haben wir nämlich nicht nur Koffer, sondern jede Menge Plastiktüten. Begonnen hat die Plastiktüten-Wirtschaft mit unseren Kopfkissen, wir haben nämlich unsere eigenen (orthopädischen) Kopfkissen dabei, was sich übrigens angesichts der sehr divergierenden Auffassung der Hotelleitungen davon, was ein Kopfkissen ist, sehr bewährt hat. Ich habe die Kissen in Lübeck in Gelbe Säcke gesteckt, aber das Material ist zu leicht, um das dauernde Hin und Her zu überstehen, die Löcher werden immer größer. Wir brauchen Ersatz, aber in Bayern sind Gelbe Säcke unbekannt. Wir brauchen also neue Plastiktüten, aber in der Altstadt von Weiden, in der unser Hotel liegt, finden sich nur Restaurants, Cafés und Schickimicki-Läden. Auch wieder nix mit „mal eben“. Das sind so unsere täglichen Organisationsprobleme.

Aber Weiden ist eine sehr interessante Stadt. Nicht nur  von der geschlossenen Altstadt mit Renaissance-Giebelhäusern, alle farbig getüncht, bin ich entzückt (daran gewöhnt man sich schnell in der Oberpfalz), sondern ganz besonders auch auch von den schönen Jugendstilfassaden gleich vor den Toren Weidens.

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Ein großer Name der Porzellanherstellung (man erinnere sich bitte an den Monte Kaolino) kommt aus Weiden: Seltmann. Und dann ist Max Reger hier geboren und aufgewachsen, wovon es viele Zeugnisse in der Stadt gibt. Gestern Abend „summte“ Weiden buchstäblich! Wie im tiefsten Süden war in den Straßenlokalen der Altstadt kein Platz mehr frei. Erst allmählich wurde uns klar, dass, gefühlt, die Hälfte der Menschen Amerikanisch sprach. Zur Erklärung dieses Phänomens schiebe ich einen Bericht aus dem O(berpfalz)Netzt ein:

„Weiden ist sehr beliebt bei unseren Leuten“, weiß Susanne Bartsch, Pressesprecherin der US-Army in Grafenwöhr. Derzeit leben im Stadtgebiet rund 100 Familien der US-Army (mit durchschnittlich je vier Familienmitgliedern). Unter anderem in Doppel- und Reihenhäusern in den Krummen Äckern und in der Mooslohstraße (die preisgekrönten „sixpack“-Häuser).  
Arbeiten in „Little-America“ in Grafenwöhr, Leben mitten in „Bavaria“ in Weiden: Das entspricht dem Zeitgeist der Army-Angehörigen. „Es geht der Trend dahin, dass Amerikaner eine weltbürgerische Haltung einnehmen“, sagt Susanne Bartsch. Zunehmend werden auch die Kinder in deutsche Schulen und Kindergärten geschickt und dazu nicht extra ins Lager gefahren: „Viele nutzen die Gelegenheit, die Kindern eine Fremdsprache lernen zu lassen.“ 

Heute ist mit 32° der heißeste Tag. In den letzten Tagen sind die Getreidefelder gelb geworden und setzen neue Akzente in die Landschaft. Unser Ziel ist heute Kemnath. Ich fahre wie immer kleine namenlose Straßen. Immer wieder führt die Straße auf eine Anhöhe und gestattet einen grandiosen Rundblick. Man kann es deutlich erkennen: Die Welt ist eine runde Scheibe.

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Nachdem ich Heide aufgelesen habe, machen wir in völliger Einsamkeit (weit und breit kein Auto, kein Mensch, kein Rindvieh, kein Sendemast) ein Picknick am Waldrand. Zum ersten Mal probiere ich ein Camping-Koch-System aus, das Kochen ohne Flamme verspricht. In einer hitze-isolierten Box kommt in eine Innenschale das Kochgut, in die Außenschale ein Heatingpack, auf das Wasser gegossen wird. Bis zu 45 Min. soll sich dann eine Temperatur von annähernd 100° halten. Die Box dampfte vor sich hin, während Heide auf den Hochsitz kletterte und Faxen machte. Ihre nassen Lauf-Klamotten trockneten derweil auf der Leiter. Danach gab es Kohlrabi mit Biss und Zucker-Tomaten an Schweizer Käse in Olivenöl geschwenkt.

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